Ganz entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, mich immer erst auf den letzten Drücker für einen Volkslauf anzumelden, hatte ich meine Anmeldung für den Burgwald Marathon in Rauschenberg bereits im Mai abgeschickt. Und dabei hatte ich mich sogar für die volle Marathondistanz gemeldet. Die klassischen Straßenläufe reizen mich gar nicht so sehr, viel mehr wollte ich auch mal einen landschaftlich ansprechenden und anspruchsvollen Marathon laufen.
Meiner üblichen Laufroutine merkte man dieses Vorhaben allerdings nicht an. Normalerweise sollte man sich zur Vorbereitung auf einen Marathon langsam an die Distanz herantasten und zumindest auch einige Läufe über 30 Kilometer absolvieren. Dazu kam es bei mir aber nicht. In den letzten drei Monaten brachte ich es mal gerade auf Laufleistungen zwischen 110 bis 125 Kilometern pro Monat, wobei meine längste Einheit über 26 Kilometer ging. Als dann auch noch Gewissheit bestand, dass der Burgwald Marathon am heißesten Wochenende des Jahres stattfinden würde, war ich mir endgültig sicher, dass meine Teilnahme sicher nicht die klügste Entscheidung wäre. Aber auch dumme Ideen wollen manchmal bis zum bitteren Ende durchgezogen werden!
Nach einer kurzen und unruhigen Nacht, stand ich also am Sonntagmorgen um 8:30 Uhr am Start. Eigentlich liegen mir so frühe Startzeiten ja nicht, aber angesichts der Wetterlage konnte man sich durchaus glücklich schätzen, dass es so früh losging. Im Schatten war es jetzt nämlich noch angenehm kühl. Willkommen war mir auch die geringe Größe des Teilnehmerfelds. Endlich mal kein Gedränge am Start. Ganz offensichtlich hatte es sich der ein oder andere Läufer kurzfristig noch anders überlegt.
Mein einziges Vorhaben bestand darin, die Start-/Ziellinie in einigen Stunden wieder selbstständig zu überqueren oder etwas pathetischer ausgedrückt, es ging für mich da draußen ums nackte Überleben. Um das zu gewährleisten, nahm ich mir vor, meinen Puls penibelst im Auge zu behalten. Dabei galt es, den Bereich von 160 – 170 Schlägen nicht zu überschreiten. Alles darüber hätte nämlich eine zu schnelle Ermüdung zur Folge. Gleichzeitig achtete ich darauf, nicht schneller als 5 min/km zu laufen. In der Konsequenz bedeutet das natürlich, dass man sich nicht an anderen Läufern orientiert, sondern sein ganz eigenes Rennen läuft.
Es dauerte eine ganze Weile, ehe ich die Müdigkeit aus den Beinen gelaufen hatte und begann, die Sache etwas optimistischer zu betrachten. Nach etwa fünf Kilometern – der knackigste Anstieg lag gerade hinter uns – drehte sich ein Läufer vor mir immer wieder um. Als ich endlich zu ihm aufgeschlossen hatte, sagte er nur: „Alleine laufen ist doof.“ Recht hat er! Es stellte sich heraus, dass auch er sich nicht so ganz sicher war, auf welchem Leistungsstand er sich befindet. Er befürchtete jedoch, alleine zu überpacen. Mit anderen Worten, ich sollte als sein Bremsklotz fungieren. Aber das war mir auch ganz recht so, denn es ist wirklich viel angenehmer, mit jemandem zusammen laufen zu können.
Während mein Mitläufer an den Verpflegungsstellen anhielt, trabte ich zunächst immer ganz locker weiter. Ich führte mein Getränk nämlich in einer Trinkblase im Rucksack mit mir. Dazu hatte ich ein isotonisches Sportgetränk im Verhältnis 1:3 mit Wasser gemischt. Und ich hatte das Gefühl, dass die kontinuierliche Flüssigkeitszufuhr genau richtig war, um meine Ermüdung zumindest etwas hinauszuzögern.
Dafür begannen meine Füße langsam aber sicher zu schmerzen. „Von wegen schöner Burgwald“, dachte ich bei mir. Gefühlt bestanden 90 Prozent der Waldstrecke aus grobem Schotter. Und das ist sowas von unschön! Natürlich wäre es da angenehmer in Schuhen statt in Sandalen zu laufen, doch grober Schotter ist ganz allgemein ein äußerst unangenehmer Untergrund. Das gilt nicht nur fürs Laufen, sondern auch fürs Spazierengehen oder Radfahren.
Als wir die 21-Kilometermarke passierten, stellte ich mir vor, wie schön es doch wäre, jetzt im Ziel zu sein. Aber ich hatte da mal gerade die Hälfte der Strecke geschafft! Spätestens jetzt war es auch eine Kopfsache. Ich fühlte mich unweigerlich an diesen alten Otto-Sketch erinnert. „Beine an Großhirn, wir könnten hier unten mal etwas Unterstützung gebrauchen.“ „Großhirn an Magen-Darm-Trakt, mehr Energie!“ „Magen-Darm-Trakt an Großhirn, hier ist nichts mehr zu holen.“ „Großhirn an Hand, Energieriegel auspacken.“ „Füße an Großhirn, aua!“ „Großhirn an Füße, Schnauze und weiterlaufen!“
Aber hey, wenn dem Hirn noch genügend Energie zur Verfügung steht, um solch sinnlose Unterhaltungen mit sich selbst zu führen, dann ist da auch eindeutig noch genügend Energie vorhanden, um weiterlaufen zu können. Oder sollten dies gar Anzeichen eines beginnenden Wahnsinns gewesen sein?
Wir befanden uns jetzt jedenfalls auf einem etwa fünf Kilometer langen Streckenabschnitt, den man einmal auf dem Hin- und einmal auf dem Rückweg passiert. Hier kamen uns sogar noch andere Marathonläufer entgegen. Diese lagen demnach bis zu 15 Kilometer hinter uns. Ein Radfahrer, der zum fleißigen Helferteam gehörte und uns entgegen radelte, rief uns zu: „Position 5 und 6“. Ich konnte es kaum glauben. Kurze Zeit später machten wir sogar noch einen Platz gut.
Nun bekam ich allerdings zunehmend Probleme, meinen Puls unter 170 zu halten. Immer wieder musste ich das Tempo drosseln. Zu allem Übel hatte mich der Brustgurt bereits ziemlich wundgescheuert und ich verfügte nicht einmal mehr über ausreichend Speichel, um den zweiten Teil meines Energieriegels kauen zu können. Erst mit ein paar kräftigen Schlücken Wasser am Verpflegungsstand, ließ sich der Riegel runterspülen.
Auf Kilometer 35 rief ich meinem Mitläufer zu, dass wir es etwas langsamer angehen lassen sollten, da ich wirklich nichts mehr im Tank hätte. Außerdem glaubte ich nicht, dass uns jetzt noch jemand einholen würde, zumal wir selbst die letzten beiden Kilometer unter Schnitt gelaufen waren und es allmählich gut und gerne 40 Grad in der Sonne waren. Doch keinen Kilometer später, hörte ich auf einem leicht abschüssigen Streckenabschnitt Schritte hinter uns. Ein Mann und eine Frau zogen an uns vorbei und sahen dabei so frisch und vital aus, als wären sie gerade erst gestartet.
Ja und das ist so ein Moment, da schlägt es dann irgendwie ein. Ich war zwar vorher bereits mit meinen Kräften am Ende, aber irgendwie war dieser Überholvorgang so etwas wie ein psychologischer Tiefschlag. Mein bisheriger Mitläufer heftete sich nun an die Fersen der beiden (wer könnte es ihm verdenken?) und schon bald sah ich die Lücke zwischen uns stetig größer werden. Ich hatte absolut nichts mehr zuzusetzen. Ich kam kaum mehr vom Fleck, gefühlt lief ich fast rückwärts. Jetzt liebäugelte ich wirklich damit, die Flinte ins Korn zu werfen.
Der nächste Verpflegungsstand lag glücklicherweise im Schatten und zwei äußerst nette Damen boten mir allerlei Getränke an. Doch zunächst einmal übergoss ich mich mit Wasser aus dem Speisfass. Anschließend trank ich mehrere Becher Cola, die ich mit Wasser verdünnte. Ich war wirklich völlig am Ende, stehend K. O. Eine der Damen fragte mich noch nach meinen Sandalen. „Sind das Luna SandalsSandalenhersteller aus Seattle. Barefoot Ted ist Mitbegrün... More?“ Ich bejahte, fügte aber gleich hinzu: „Ist aber leider auch nicht mehr das Wahre, die waren mal viel besser.“ Ich bedankte mich für diese Oase in der Wüste, nahm noch einen Becher Wasser mit auf den Weg und ging.
Der Verpflegungsstand lag erst ca. hundertfünfzig Meter hinter mir, da wurde ich erneut überholt. Auch dieser Läufer sah keineswegs mehr frisch aus. Ich rief ihm zu: „Hau rein!“, trank den Becher aus und begann dann selbst wieder langsam zu traben. Ãœberraschenderweise konnte ich schon bald wieder zu ihm aufschließen. Offenbar hatte er ein paar Begleiter mitgebracht, die ihn an der Strecke anfeuerten und ihm und auch mir noch einmal eine Flasche Wasser reichten. Ich sagte ihm, dass wir das jetzt gemeinsam zu Ende laufen werden, doch er musste immer wieder abreißen lassen.
Und auch wenn mir die letzten Kilometer unter der glühende Sonne wie eine Ewigkeit vorkamen, ich wusste jetzt, dass ich es schaffen würde. Am letzten Verpflegungsstand vor dem Ziel, erfrischten wir uns noch einmal ausgiebig und nahmen dann die letzten zwei Kilometer dieses beschwerlichen Weges in Angriff. Doch schon jetzt überwog die Freude in mir. „Großhirn an alle, gleich ist es geschafft!“ Ich bedankte mich artig bei den aufmunternd klatschenden Zuschauern und überquerte die Ziellinie schließlich nach 3:50:38 Stunden glücklich und zufrieden als Siebter. Ein absolut großartiges Gefühl!
Ich harrte noch etwas an der Ziellinie aus, bis auch mein Leidensgenosse, der sich mit mir auf den letzten Kilometern so gequält hatte, eintraf. Dass wir jeweils unsere Altersklasse gewonnen hatten, war mir zu dem Zeitpunkt noch gar nicht bewusst. Das erfuhr ich erst nach dem Duschen. Die Ehrung fand jedoch leider erst einige Stunden später statt. Aber es war schließlich das erste Mal, dass ich etwas gewonnen hatte. Mein Preis bestand aus einem Laib Brot, einem Sportgetränk und einem „Run Happy Kit“ von Brooks. Joa, ein bisschen stolz war ich schon. Auch wenn man der Ehrlichkeit halber anmerken muss, dass es insgesamt nur 39 Finisher und nur einen weiteren Teilnehmer in meiner Altersklasse gab. Aber was kann ich denn dafür, wenn die alle kneifen?
Doch auch unabhängig von meinem persönlichen Erfolg, hat mir der Lauf sehr gut gefallen. Ein ganz großer Dank gilt da natürlich den vielen Helfern am Streckenrand, die uns Läufer in dieser Hitze bestens versorgt haben. Die Beschaffenheit der Waldwege war wie erwähnt nicht so ganz mein Fall, aber damit muss man einfach rechnen, wenn man etwas anderes sucht als einen schnöden Straßenlauf. Alles in allem war der 5. Burgwald Marathon in meinen Augen eine sehr schöne und rundum gelungene Veranstaltung!